Diskutieren war gestern

Früher, also ganz früher, als man noch mit Menschen diskutiert hat, ohne dass gleich jemand den Notausgang gesucht hat oder völlig ausgetickt ist, da gab’s noch sowas wie eine Streitkultur. Heute? Heute reicht oft schon ein Halbsatz, ein Link, manchmal nur ein falsches Wort, und zack! Türen knallen, Augen rollen, Kommentarspalten und Livestream-Chats brennen lichterloh. Freundschaften zerbrechen! 

Was ist da passiert?

Ich weiß nicht, ob’s am Internet liegt. Oder an Social Media? Oder daran, dass wir alle zu wenig schlafen, zu viel Bildschirmzeit haben und unsere Meinung öfter updaten als unsere Software. Aber irgendwie ist sie weg - diese feine Kunst, sich gepflegt zu streiten, ohne gleich den Gegenüber als Idioten zu erklären.

Heutzutage heißt es viel zu oft: Du bist entweder für uns – oder gegen uns.
Zwischentöne? Differenzierte Meinungen? Argumente? Pfff. Wer braucht schon sowas, wenn man mit einem Satz direkt ins moralische Aus pfeffern kann?

Klassiker-Beispiele gefällig?

Corona. Entweder du warst Team Maske oder Team „alles Quatsch“.
Migration. Entweder du willst alle Grenzen aufmachen und alle einladen. Oder du bist rechtsradikal. 
Gendern. Entweder du sprichst mit Sternchen, Unterstrich und Betonung auf dem “I“. Oder du bist komplett rückständig und geistig stehengeblieben. 

Und wehe, du sagst mal: Hm…ich bin da unsicher. Dann wird’s richtig ungemütlich, weil Unsicherheit heute wie Schwäche wirkt. Statt wie das, was sie oft ist. Nämlich ein Zeichen von Nachdenken.

Natürlich ist es bequem, alles in Gut oder Böse einzuteilen. Das spart Hirnschmalz. Spart Zeit. Und man kann sich in seiner Echokammer wohlig einrollen wie in eine warme Decke aus „Ich hab doch recht“.

Aber was wir dabei verlieren, ist der Raum dazwischen. Der Raum, in dem früher diskutiert wurde. Der Raum, in dem man sich mal nicht einig war – und trotzdem miteinander gesprochen hat. Wann hast du das letzte Mal mit jemandem gesprochen, der eine völlig andere Meinung hatte? Und du hast zugehört, ohne innerlich schon das Kontra zu laden? Genau. Ich ehrlich gesagt auch nicht so oft. Und das ist das Problem. Wir reden nicht mehr miteinander. Wir senden. Laut. Und mit Nachdruck. Aber wir hören nicht mehr zu.

Dabei war es doch gerade das Zuhören, das uns weitergebracht hat. In der Familie. Im Freundeskreis. Im Job. Oder am Pokertisch, wenn’s mal wieder darum ging, warum jemand ausgerechnet mit 7-2 suited preflop All-in geht. Na gut, das ist vielleicht ein anderes Thema. Oder auch nicht. Auch da gibt’s Schwarzweiß-Denker.

Was ich sagen will: Wir müssen das wieder lernen. Das Diskutieren. Das Fragenstellen. Das Aushalten. Es darf wehtun. Es darf anstrengend sein. Es darf sogar laut werden, aber bitte nicht verletzend. Und nicht immer mit dem Ziel, zu gewinnen. Sondern zu verstehen. Denn echte Streitkultur hat nichts mit Recht haben zu tun. Sondern mit Respekt.

Und wer weiß - vielleicht entdecken wir dabei sogar wieder, dass die Welt nicht nur schwarz oder weiß ist. Sondern auch ein paar ganz schöne Grautöne zu bieten hat. Manche davon sogar mit Glitzereffekt. Die sieht man aber nur, wenn man genau hinschaut. Frohe Pfingsten. 



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