Mittwoch, November 05, 2014

Zwei Ostwestfalen in New York

In der Rubrik “Storys aus Las Vegas“ geht es heute mal nicht um eine Episode aus der Wüstenstadt, sondern um ein Erlebnis aus New York. Da diese Geschichte aber zu meinen absoluten Lieblingsstorys gehört, möchte ich sie hier nicht vorenthalten. 

Mein Kumpel Schleppi - im Nachfolgenden nenne ich ihn der Einfachheit halber bei seinem Vornamen Markus - und ich hatten gerade zeitgleich unsere Ausbildungen hinter uns gebracht. Markus als KFZ-Mechaniker und ich als Programmierer. Und bevor es dann so richtig mit dem harten Arbeitsleben losgehen sollte, wollten wir noch ein wenig die Welt bereisen. Wir hatten uns die USA als Ziel auserkoren. Zum einen wohnte Markus‘ Tante in Los Angeles, zum anderen ein Bekannter von mir in New York. Wir hatten somit schon einmal zwei Anlaufadressen. Wir hatten beide so um die 5.000 DM gespart und wollten halt so lange bleiben, wie uns das Geld über Wasser hält. Optimaler Weise ein halbes Jahr, denn so lange hätten wir theoretisch bleiben dürfen, da wir natürlich nur ein ganz normales Touristenvisum hatten. Dass aus diesen geplanten 6 Monaten letztendlich dann nur gute 8 Wochen wurden und wo es uns finanziell richtig erwischt hat, darüber werde ich an anderer Stelle berichten. 


Zwei Ostwestfalen auf dem Weg in die weite Welt - Schleppi und Potti (hier noch mit Haaren!)
Von Amsterdam aus ging es mit Delta Airlines nach New York, genauer gesagt zum Flughafen JFK. Und bereits die ersten Stunden in NYC waren für uns beide absolut ergreifend. Vom Flughafen ging es mit einem Shuttle zur U-Bahn Station. Dort setzten wir uns in die Metro Richtung Manhattan. Ich weiß ehrlich genau gesagt nicht mehr genau, wo wir exakt ausstiegen, aber als wir die U-Bahn Station verließen und hochgingen, kriegten wir beide den absoluten Flash. Um uns herum nur Wolkenkratzer…so riesig, wie wir beide nie zuvor Gebäude gesehen hatten und uns überhaupt hätten ansatzweise vorstellen können. Zudem absolute Hektik. So viele Menschen eilten herum und die lauten Sirenen von Polizeiautos und Krankenwagen drangen penetrant in unsere Ohren. Wie man es eben aus den Filmen kannte. Aber irgendwie war es total faszinierend und von der ersten Sekunde an hatten wir uns Kopfüber in die Stadt verliebt.
New York City - eine faszinierende Stadt
Nachdem wir eine Nacht bei meinem Bekannten gepennt hatten, der für sein 22m² “große“ Mietwohnung im 34. Stock eines dieser Wolkenkratzer übrigens knappe 1.000$ monatlich abdrücken musste (dafür hätte man in Rheda-Wiedenbrück zu damaligen Zeiten ganze Straßenzüge anmieten können!), ging es am nächsten Morgen auf Entdeckungstour durch Manhattan. Am Südzipfel der Insel, Nähe Chinatown, entdeckten wir einen Park, in dem richtig Trubel war. Dieser Park nannte sich Washington Square Park. Und das war genau unsere Location! 

 Inmitten des Parks war eine größere Aktionsmulde, in der sich im 10-Minuten-Wechsel irgendwelche Straßenkünstler dem Publikum vorstellten. Akrobaten, Comedy-Typen, Feuerschlucker, Zauberer und wer auch immer meinte, seine Künste präsentieren zu müssen. Zuschauen kostete nichts. Nach der Performance gingen die jeweiligen Künstler (einige hatten wirklich richtig was drauf und es machte riesig Spaß zuzuschauen!) mit einem Hut herum und wer wollte, der konnte einen Dollar hineintun. Wer dies nicht machte, der bekam vielleicht einen kleinen lustigen Spruch vom Artisten reingedrückt, aber es war wie gesagt keine Pflicht etwas zu geben. Hier saßen wir stundenlang in der Sonne, genossen die Darbietungen der Künstler, beobachteten die Leute und hatten einfach eine gute Zeit.


Der Washington Square Park am Südzipfel Manhattans - ein Muss für alle Touristen!
Irgendwann am Nachmittag, als wir uns auf den Heimweg machen wollten, entdeckten wir auf der anderen Seite des Parks eine Nische, in der ein paar Schachbretter auf kleinen dafür vorgesehen Tischen aufgestellt waren. Wir blieben an einem Brett stehen und beobachteten das Match eines recht ungepflegten Mannes mittleren Alters gegen einen New Yorker Geschäftsmann, der dort im schicken Nadelstreifenanzug saß und offenkundig seine Arbeitspause nutzte um ein wenig abzuschalten. Sie spielten auf einem recht schwachen Niveau. Mal ließ ließen sie einen Bauern ungedeckt stehen, nette und einfach anzuwendende 2er oder 3er Kombinationen übersahen sie ebenfalls. Aber das Spiel war recht spannend. Irgendwann fiel die Zeitklappe des ungepflegten Mannes und somit hatte er das Match verloren. Er packte in seine Hosentasche, holte einen Bündel an Scheinen heraus und gab dem Geschäftsmann einen 20$-Schein. „Got to go, see you 
tomorrow“, sagte der adrett gekleidete Geschäftsmann und verschwand. 

Das Niveau der beiden entsprach in etwa meinem Schachniveau. Ich spielte zur damaligen Zeit zwar bereits einige Jahre, aber hatte mich nie ausgiebig mit der Theorie und dem ganzen Eröffnungskram beschäftigt. Für einen Hobbyspieler hatte ich jedoch ein recht passables Niveau (für die Schachexperten unter den Lesern: ELO-Zahl irgendwo um die 1200), aber mehr halt auch nicht. Bei Markus hingegen sah es anders aus. Markus kannte alle Eröffnungen in- und auswendig, spielte bereits etliche Jahre im Verein und hatte als 15-Jähriger(!) das seltene Kunststück fertig gebracht Stadtmeister der Senioren in Rheda-Wiedenbrück zu werden. In einer Stadt, in der auch zwei höherklassige Vereine zu Hause waren. Markus‘ ELO-Zahl damals würde ich so auf 1800 oder 1900 einschätzen. Markus würde die beiden Hobbyspieler ohne Probleme nach allen Regeln der Kunst an die Wand nageln.

Auf jeden Fall schauten Markus und ich uns ungläubig an und hatten zeitgleich zu 100% den gleichen Gedanken ohne überhaupt ein Wort zu wechseln, als wir sahen, dass der ungepflegte Mann zum einen so viel Bargeld bei sich hatte und bei seinen Schachfähigkeiten bereit schien 20$-Partien zu spielen. Ansprechen konnten wir ihn natürlich nicht, denn dann hätte er sicherlich sofort Lunte gerochen, dass wir halt keine Anfänger waren. Wir mussten einfach darauf hoffen, dass er uns anspricht. Dann hätten wir bzw. Markus ein wenig rumdrucksen können und es würde eine einfache Gelegenheit werden gleich am ersten Tag unserer Reise unsere Urlaubskasse aufzufüllen. Wir wandten uns ab um den Eindruck zu erwecken, dass wir weggehen würden, als er auf einmal reagierte. „Hey…you guys play chess“? TSCHA-TSCHING, der Fisch hatte angebissen! Während wir uns umdrehten, flüsterte ich Markus ganz leise „Fünfzig-Fünfzig“ zu, was nichts anderes bedeutete, als dass ich die Hälfte der finanziellen Aktion übernehmen würde. Er nickte mir zu. „Yes, a little bit“, blufften wir. „OK…let’s play some”, entgegnete er. Natürlich nahm Markus Platz und keine Minute später hatten die beiden sich geeinigt ein Blitzspiel auf 5 Minuten Bedenkzeit um 20$ zu spielen. Es war ein Spiel auf Augenhöhe. Markus‘ Stellung war durchgehend besser und es schien, als wenn die ersten 20 Bucks recht sicher reinkamen. Aber irgendwie löste sich der Mann, dessen Haare vermutlich mehrere Monate kein Shampoo mehr gesehen hatte und dessen Kleidung offensichtlich irgendwo auf der Straße bei einer Altkleidersammlung aufgelesen wurden, aus den brenzligsten Situationen. Die Zeit bei beiden neigte sich immer mehr dem Ende zu und es wurde richtig spannend. Irgendwann fiel dann Markus‘ Klappe und die 20$ waren verloren! Unfassbar…der Typ war mit Riesenglück von der Schippe gesprungen!

„OK…ihr seid nette Jungs und ich gebe euch noch eine Revanche“, sagte er. „Und damit ihr nicht mit Verlust nach Hause geht, spiele ich jetzt mit nur einer Minute Bedenkzeit und du bleibst bei 5 Minuten“. Na, das war doch mal ein faires Angebot seinerseits und natürlich nahmen wir, sprich Markus, an. Dann sind wir wenigstens wieder auf Null. In diesem Match bewegte Struwelpeter, wie ich ihn aufgrund seiner Haarpracht mal nennen möchte, seine Figuren jedoch einen Hauch schneller als in den Partien zuvor. Dennoch - Markus baute ordentlich Druck auf - schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, wann entweder Struwelpeters Zeitklappe fallen würde oder er sich dem Druck von Markus beugen musste. Als geschätzt wirklich nur noch 3-4 Sekunden auf seiner Uhr waren, Markus hingegen hatte noch reichlich Zeit, dann auf einmal der absolute Schock für uns! „Check-Mate“ (Schachmatt!), stieß es aus ihm heraus. Es wirkte, als wenn auch er selbst ebenfalls völlig überrascht war von seiner durch Zufall gefundenen 3er-Wunderkombination, die auch Markus komplett übersehen hatte. Der Typ hatte ein zweites Mal seinen Kopf aus der Schlinge gezogen und kassierte einen weiteren 20$-Schein von uns ab.

Markus wandte sich mir zu und sagte leise, dass der Typ doch gar nicht so schlecht spiele wie zunächst angenommen. Er war sichtlich angeknockt aufgrund der zwei Niederlagen und wollte keine dritte Partie. Fairerweise gaben wir ihm die Hand, waren im Begriff den Verlust hinzunehmen und wollten uns gerade auf den Heimweg machen, als er uns ein weiteres unablehnbares Angebot machte. „OK…guys…wir spielen eine letzte Partie. Ich spiele nochmalig mit nur einer Minute Bedenkzeit und dieses Mal dazu auch nur mit einem Turm“!
Kein Mensch der Welt würde Markus mit 5 vs. 1 Minute und zudem mit nur einem Turm auf dem Brett schlagen! Markus nahm wieder Platz und wir würden zumindest mit einem blauen Auge - sprich immerhin nur 20$ Verlust - davon kommen. Das Spiel begann. Mittlerweile hatten sich auch ein paar Zuschauer um uns gesellt um zuzuschauen. Während Markus versuchte möglichst viele Figuren schnell abzutauschen, es würde ja sein zusätzlicher Turm am Ende übrig bleiben, schien Struwelpeter eine Sternstunde zu haben. Er zog Kombinationen aus dem Hut, als wenn er von göttlicher Hand geführt wurde. Markus verlor den ersten Bauer, dann den zweiten…irgendwann auch sein Pferd. Figurentechnisch hatte Struwelpeter bereits mehr als ausgeglichen. Aber er hatte abermals ein großes Zeitproblem und die Uhr tickte gnadenlos gegen ihn. Allerdings fing er jetzt an regelrecht über das Brett zu fliegen…nie zuvor hatte ich jemanden gesehen, der so schnell die Figuren bewegte. Er schien zudem jeden Zug von Markus bereits im Voraus zu ahnen. Und dann kam es wie es kommen musste. Er packte eine tödliche Kombination aus dem Zauberkasten und setzte Markus ein weiteres Mal Schachmatt! Eine dritte 20$-Note verließ unsere - für 6 Monate eh nicht prall gefüllte - Urlaubskasse und wechselte den Besitzer.
Wir waren restlos bedient. Auf dem Heimweg warf Markus mir vor, wieso ich ihn noch die zweite und dritte Partie reinquatschte, während ich auf der anderen Seite es nicht in meinen Kopf hinein bekam, wieso er von so einem Amateur rasiert wurde. Der zudem noch wesentlich weniger Zeit zur Verfügung hatte und in der letzten Partie auch noch einen Turm weniger auf dem Brett hatte! Am Abend jedoch war alles wieder in Ordnung…wie es sich unter Männern halt gehört.

Am nächsten Tag ging es dann nochmals zum Washington Square Park. Bereits, als wir den Park betraten, sahen wir aus der Ferne, dass sich in der Schachecke eine große Traube an Menschen versammelt hatte. Als wir dran waren und über die Schultern einiger Leute blicken konnten, erspähte ich Struwelpeter und den Businessmann vom Vortag am Brett. Sie spielten 1-minütiges Bullett-Chess und beide flogen übers Brett, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Zuschauer genossen es und es war in der Tat ein absolutes Spektakel. Ich fragte einen der Zuschauer, wer denn der Typ sei (ich zeigte dabei auf Struwelpeter). „Oh…das ist Roman…Roman Dzindzichashvili. Mehrfacher US-amerikanischer Meister und erst vor ein paar Wochen habe er die US-Open in NYC gewonnen. Er ist die Nr. 3 auf der Welt hinter Gary Kasparov und Anatoly Karpov“, sprudelte es voller Stolz aus dem Typen hervor, der mit Struwelpeter scheinbar eng befreundet war.

Filetierte uns mit Haut und Haar - der Schachgroßmeister Roman Dzindzichasvili
Bei meinen Recherchen einige Monate später stellte ich fest, dass es mit der Nr. 3 auf der Weltrangliste zwar ein wenig übertrieben war von dem Sportsfreund, Struwelpeter aber immerhin Platz-Nr. 13 auf der Weltrangliste inne hatte. Roman galt zu jenen Zeiten zudem als der weltbeste Blitzspieler! Es war sicherlich keine Schande für Markus gegen ihn dreimal den Kürzeren gezogen zu haben. Wir waren dem gebürtigen Georgier und dem korrekt gekleideten Geschäftsmann, ebenfalls einer der besten Schachspieler in NYC und offenkundig mit dem Georgier unter einer Decke steckend, mit Vollgas und ungebremst in die Hustle-Falle gegangen. Und dies nicht einmal 24 Stunden nach unserer Ankunft im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es war eine schmerzvolle und vor allen Dingen teure Lektion. Aber das Lehrgeld, das wir hier bezahlten, schützte uns in den Monaten danach und in vielen weiteren Situationen vor anderen Fallen, in die wir naiven Ostwestfalen sicherlich ebenfalls und zweifelsfrei getappt wären.

Was lernen wir daraus? Prüfe jedes Angebot! Insbesondere, wenn es sich um scheinbar richtig attraktive und kaum zu glaubende Offerten handelt. Meistens steckt irgendein Haken dahinter!

In einem der nächsten Blogs berichte ich dann davon, wie sich die Wege von Roman Dzindzichashvili und mir ein weiteres Mal kreuzten. Und zwar etliche Jahre später in Las Vegas ... am Pokertisch! Der Blog steht dann unter dem Motto „Man sieht sich immer zweimal im Leben!“ 
J

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